21.12.2020
Bei Digitalisierungsprojekten in der Industrie bzw. im Maschinenbau kommt die menschliche Planungsintelligenz vor der Künstlichen Intelligenz. Moderne Automatisierungssoftware besteht sowohl aus stabilen Standardlösungen als auch flexiblen individuellen Ansätzen. Wir haben Experten um die beste Route auf dem Weg zu Industrie 4.0 gefragt.
Die Automatisierungspyramide ist seit Jahren die anerkannte Darstellung der verschiedenen Ebenen oder Hierarchien in der Fertigungsindustrie. Beginnend beim Shopfloor bzw. dem Produktionsprozess spitzt sie sich über die verschiedenen Hard- und Softwaresysteme bis hin zum führenden ERP-System zu. „Als MES-Anbieter sahen wir uns jahrelang als Bindeglied zwischen Shopfloor und Unternehmensleitebene in der Mitte der Pyramide“, sagt Bernhard Falkner, Chief Technology Officer der Industrie Informatik GmbH. Doch diese Automatisierungspyramide will Falkner mit seinen Kunden sprengen: „Die Automatisierungspyramide wird sich in den kommenden Jahren nach und nach auflösen. Monolithische, abgeschottete Softwaresysteme weichen flexiblen Anwendungen, Prozessen und Microservices.“
Ein MES (Manufacturing Execution System) alleine wird die steigenden Anforderungen an eine Smart Factory nicht mehr abbilden, ist der Experte überzeugt: „Der User wählt künftig seine Bausteine aus der gesamten Systemvielfalt – unabhängig von Hersteller und technologischer Basis.“ Eine zukunftsfähige Fertigungsplattform hat die Aufgabe, alle nötigen (Einzel-)Komponenten zusammenzuführen und zu „orchestrieren“. Das daraus resultierende Ergebnis ist ein zukunftsfähiges „digitales Ecosystem“.
Unternehmen sollten sich laut Falkner vor Augen führen, welche Ziele sie durch die Digitalisierung erreichen möchten. Eine umfangreiche Bedarfserhebung zu Beginn ist das A und O, um klare Anforderungen bzw. konkrete Anwendungsfälle definieren zu können. Dabei müssen auch die bestehenden Prozesse gegebenenfalls an die neuen Herausforderungen und Ziele angepasst werden. „Viel zu oft scheitern Industriebetriebe an ihren Bemühungen, da sie unrealistische Erwartungshaltungen verfolgen und mit der Digitalisierungsgießkanne über die gesamte Wertschöpfungskette gehen“, weiß Falkner aus Erfahrung.
Für eine erfolgreiche, agile Umsetzung von Digitalisierungsprojekten in der Praxis empfiehlt er eine leistungsfähige und integrative Fertigungsplattform: „Dank dieser profitieren User von einer flexiblen Produktion, die es braucht, um auf dem schnelllebigen Markt wettbewerbsfähig zu bleiben. Damit können wir unseren Usern das Beste aus zwei Welten anbieten – Stabilität einer Standardlösung auf der einen Seite und releasesichere Individualisierbarkeit für maximale Flexibilität auf der anderen Seite.“ Prozesse können damit schnell und dynamisch an neue Gegebenheiten angepasst werden. Je nach Know-how und User-Anforderungen können verschiedenste Bausteine sogar völlig eigenentwickelt werden.
Michael Bögl und Roman Stainko von der RISC Software GmbH sind Spezialisten für mathematische Optimierung. Auf dem Weg zur Smart Factory sehen sie zahlreiche Aufgabenstellungen für Unternehmen. Bespielweise muss die Reihenfolge in der Produktion geplant werden. Es geht aber auch um Auswahl und Platzierungsproblemstellungen oder Verschnittoptimierung. „Durch aktuelle Rechnerperformance kann die bestmögliche Lösung auch für komplexe Steuerungsaufgabenstellungen in so kurzer Zeit berechnet werden, dass die Taktzeit eingehalten werden kann“, erklärt Bögl.
Auch die Künstliche Intelligenz kommt in Form von Predictive Analytics ins Spiel. „Aus Maschinendaten werden Entscheidungen bzw. Entscheidungsmodelle gelernt, um z.B. Wartungsfälle rechtzeitig zu erkennen“, sagt Stainko. Bevor die physische digitalisierte Maschine oder Anlage gebaut wird, entsteht ein Digitaler Zwilling am Computer. „Dieses digitale Abbild wird zur optimalen Ausgestaltung und Simulation der Maschine herangezogen“, erklärt Stainko. Das Unternehmen selbst kann damit unterschiedliche Aspekte der Produktionsplanung betrachten: die Planung der Produktionsprozesse und -abläufe, Kapazitäts- und Ressourcenplanung u.v.m.
Die Umsetzung eines Digitalisierungsprozesses schließlich besteht aus mehreren Phasen. In der Analysephase werden Anforderungen und Rahmenbedingungen geklärt sowie die Ziele festgelegt. Die Umsetzung erfolgt iterativ in Zyklen. Zu Beginn erstellen die Experten bei RISC ein Minimum Viable Product (MVP). „Damit kann der Kunde früh mit dem (werdenden) Produkt arbeiten und Feedback bereitstellen“, erklärt Bögl. Bis zum fertigen Produkt wird das MVP laufend erweitert und verfeinert. „Damit hat der Kunde immer ein lauffähiges Produkt und seine tatsächlichen Anforderungen können während der Entwicklung integriert werden“, betonen Bögl und Stainko.
Gemeinsam mit dem Maschinen- und Anlagenbauer FILL hat die RISC Software eine Optimierungslösung für die Produktion von Leimbindern entwickelt. Die wichtigste Erkenntnis für Bögl und Stainko war dabei, dass eine gute und früh verfügbare Datenbasis fundamental für einen erfolgreichen Projektverlauf ist. Stefan Murauer, Team Manager Software Engineering bei der FILL Gesellschaft m.b.H., betont: „Das Beste aus beiden Welten wurde vereint zu einer Gesamtlösung.“ Im konkreten Projekt handelt es sich um eine Anlage zur Produktion von Leimbindern.
Um solche Leimbinder herzustellen, werden die einzelnen Holzbretter am Eingang der Maschine gescannt. Dabei werden nutzbare und unbrauchbare Bereiche wie abgeschlagene Ränder oder Äste identifiziert. Der Optimierungsalgorithmus berechnet unter Berücksichtigung des aktuellen Zustands der Maschine und der gewünschten LeimbinderKonfiguration, wie die Bretter in optimaler Weise geschnitten und im Leimbinder angeordnet werden sollen, um eine möglichst hohe Ausbeute zu erzielen. „Durch die implementierte Lösung ist gewährleistet, dass bei maximaler Produkt-Flexibilität möglichst wenig verwendbares Holz als Ausschuss anfällt und so der wertvolle Rohstoff effizient genutzt wird“, erklärt Murauer.
Ausgangspunkt des Projekts war die Anforderung von Maschinen- und Anlagenbauern, ihren Kunden hocheffiziente und ressourcenschonende Maschinen zur Verfügung zu stellen. Der heutige Stand der Technik erlaubt den Einsatz von fortgeschrittenen Optimierungsmethoden. „Die verbauten SPS-Steuerungen in herkömmlichen Maschinen besitzen jedoch keine ausreichende Rechenkapazität für diese fortgeschrittenen Algorithmen“, weiß Murauer, „Abhilfe schaffen dabei Optimierungsrechner, die die nächsten durchzuführenden Prozessschritte berechnen und zur Anlagensteuerung retour übermitteln.“ Murauers Fazit: „Die Software einer Anlage spielt in der heutigen digitalisierten Welt eine immer größere Rolle – der Maschinenbau rückt damit ein Stück in den Hintergrund – bleibt aber dennoch wichtig.“
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