Digitalisierung ohne Maschinenbau ist sinnlos

Digitalisierung braucht den Maschinenbau – und umgekehrt. © iStock/ipopba
Digitalisierung braucht den Maschinenbau – und umgekehrt. © iStock/ipopba
DI Dr. Gerhard Dimmler, Vice President R&D ENGEL AUSTRIA GmbH und MC-Beiratssprecher © ENGEL AUSTRIA
DI Dr. Gerhard Dimmler, Vice President R&D ENGEL AUSTRIA GmbH und MC-Beiratssprecher © ENGEL AUSTRIA

05.02.2021

Aktuelle Trends und künftige Entwicklungen standen im Fokus des Forums Maschinenbau 2021 am 28. Jänner. Coronakonform fand die traditionelle Jahresauftakt-Veranstaltung des Mechatronik-Clusters (MC) ausschließlich online statt. 90 Teilnehmer*innen waren der Einladung von Mechatronik-Cluster, sparte.industrie der WKOÖ und der Innung der Mechatroniker nachgekommen und verfolgten drei spannende Keynotes mit anschließender Möglichkeit zum individuellen Austausch.

MC-Beiratssprecher sowie Forschungs- und Entwicklungsleiter bei Engel Austria, Gerhard Dimmler, eröffnete das Forum Maschinenbau mit seinem provokanten Vortragstitel „Digitalisierung ohne Maschinenbau ist sinnlos – Maschinenbau ohne Digitalisierung aber auch?!“. Er zeigte auf, wie wichtig die Datendurchgängigkeit und die Modellbildung sind, und an welchen Lösungen Engel dahingehend arbeitet. Der Titel des Vortrags sollte bewusst zum Nachdenken anregen. „Maschinenbau wird als traditionell, von manchen sogar als old-fashioned bezeichnet, aber rein nur mit Bits und Bytes wird man nichts bewegen können“, sagte Dimmler. Das systemische Denken ist jedoch ein wesentliches Grundverständnis im Maschinenbau. „Das nimmt uns auch im Zeitalter der Digitalisierung keiner ab. Es geht im Maschinenbau darum, die direkte Kundenschnittstelle zu bewahren“, ergänzte der Beiratssprecher, „aber ohne Digitalisierung ist das – vermutlich – aussichtslos!“
 

Digitalisierung ist Knochenarbeit

Die Komplexität wird aufgrund der Wechselwirkungen zunehmend unbeherrschbar – mit Digitalisierung wird sie beherrschbar. Tools ermöglichen es, die Wechselwirkungen entlang der Prozesskette zu berücksichtigen und in Form von Modellen in Regelwerken abzubilden. „Denn wenn wir über Digitalisierung reden, dann oft über sichtbare Produkte und Dienstleistungen sowie Softwarelösungen für digitale Assistenzsysteme, maschinelles Lernen, neue Business-Modelle, Mensch-Maschine-Kollaboration oder Additive Manufacturing. Wichtig sind aber auch die Softwaresysteme als unsichtbare Elemente, z.B. ERP, MES, PLM, Digitaler Zwilling, Simulationen u.v.m. Diese unsichtbaren Elemente erfordern viel Aufwand, treten beim Kunden aber oft nicht so in Erscheinung“, betonte Dimmler. Hinter den Softwaresystemen steckt also echte Knochenarbeit.
 

Hype ist verflogen

Der Experte setzte mit einer ernüchternden Erkenntnis fort: „Der Hype um Industrie 4.0 ist verflogen. Der erhoffte Nutzen hat bei vielen Firmen noch nicht eingesetzt – auch oft deswegen, weil der Computerisierung intern zu wenig Augenmerk geschenkt wurde.“ Es sei also zwingend notwendig, den Reifegrad der Datendurchgängigkeit und Modellbildung als Basis für ein gemeinsames Funktionsverständnis zu erhöhen, um eine Prognosefähigkeit und Adaptierbarkeit nutzen zu können.
 

Datendurchgängigkeit und Modellbildung

Die grundsätzliche Problematik der Datenanalyse ergibt sich aus unterschiedlichen Methoden, Tools und Funktionalitäten. Die Datenübertragung geschieht oft über Zeichnungen und dokumentenbasiert. Diese Informationen sind meist maschinell nicht lesbar und können mit dem Modell nicht mehr rückverbunden werden. Teilweise können auch die Tools nicht mehr miteinander kommunizieren und es geht eine Menge an Informationen verloren. „Bei Engel sehen wir den Schlüssel zu einer besseren Datendurchgängigkeit in Modellen“, erklärte Dimmler. Hier erkannte man beim Kunststoffverarbeiter: Das umfassendste Modell ist nicht das beste Modell. Zielführender ist das Weglassen von Details und irrelevanten Informationen für einen bestimmten Modellzweck.
 

Einfach veranschaulicht am Praxisbeispiel Schraube

Für die Entwicklung einer Schraube erstellt der Techniker ein analytisches Modell der Vorspannkraft. In der Simulation wird die Verformung analysiert. Für die Konstruktion sind Kollisionsvermeidung und Montierbarkeit wichtig, der Einbauort und das Drehmoment wiederum sind für die Montage entscheidend. Und der Einkauf stellt Fragen nach dem Bedarf und der Preisgestaltung. All diese Anforderungen müssen nun in einem Modell abgedeckt werden. Herausfordernd sind dann z.B. Änderungen von Normen. Ein möglicher Lösungsansatz lautet MBD (Modellbasierte Definition, auch als 3D-Master bekannt) mit dem Ziel, für den Folgeprozess nutzbare Modelle und Informationen zu definieren sowie Produkt- und Prozessinformationen ins 3D-Modell zu integrieren. „Für die Schraube heißt dies nun, dass wir keine Zeichnungen mehr anfertigen, sondern den 3D-Master nutzen. Somit können wir Informationen automatisch übertragen und stellen die Informationsweitergabe sicher.“ Als „Sprache“ für ein gemeinsames Funktionsverständnis nutzt Engel MBSE – Model-based Systems Engineering. Dabei werden Lösungsmodelle mit Funktionsmodellen so verknüpft, dass wiederkehrende Anforderungen automatisiert werden können.
 

Neues Mindset ist Voraussetzung

Für Dimmler ist außerdem klar: Digitalisierung ist kein rein technologischer Wandel, sondern auch ein Mindset-Thema: „Früher wurde oft in Silos gedacht, über andere Bereiche im Unternehmen fehlte teilweise das Wissen. Jetzt bekommen wir mehr Transparenz, mehr Gespür für den Gesamtkontext.“ Engel ist dabei, eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Begriffe zu erheben und will Digitalisierungs-Teams mit IT-Affinität schaffen. „Wir glauben, dass wir die Komplexität jetzt besser in den Griff bekommen“, ist Dimmler überzeugt. Er appellierte auch an die Zuhörer*innen, mit der Digitalisierung nicht unnötig zuzuwarten: „JETZT ist Handeln dringend notwendig! Das erfordert viel Einsatz von den Mitarbeitern – aber daraus entsteht nachhaltiger Nutzen. Die Chance, die Herausforderungen zu meistern, müssen wir nutzen.“ Sein zusammenfassendes Fazit: „Braucht Maschinenbau Digitalisierung? Absolut, vermutlich sogar mehr als umgekehrt.“
 

Trends für 2030

Im zweiten Vortrag entführte Eric Maiser vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) die Teilnehmer*innen in die Zukunft des Maschinenbaus. Aus dem „Trendradar Maschinenbau“ präsentierte er zwei Kernaussagen: Alle Maschinenbauer müssen messen und biointelligentes Produzieren könnte ein Trend der Zukunft sein. Eine Studie zu Zweiterem ist in Arbeit. „Industrie 4.0 beschäftigt uns seit gut 20 Jahren, selbstorganisierende Produktion war die Vision. Mechanik treibt die Branche, seit 2000 massiv auch die IT. Digitalisierung ist die neue Ära im Maschinenbau“, sagte Maiser. Doch was ist das „next big thing”? Die VDMA Future Business hat mit Partnern wie dem Fraunhofer Institut einen Thinktank zur Trendforschung aufgebaut. Dieser hat die Themenfelder des Maschinenbaus für 2030 erhoben.
 

Die Vermessung der Zukunft

„Alle Maschinenbauer müssen messen“, lautet eines der Zukunftsszenarien. Es werden neue Messtechniken entwickelt, bei denen der Maschinenbau als Anbieter auftritt. Der Bedarf an höherer Präzision beim Messen wird steigen. Eines der möglichen Szenarien nennt Maiser „Ambivalent Future“: fortgeschrittene Simulationen komprimieren den Messbedarf auf Schlüsselprozesse. „Digitale Transformation ist zentraler Treiber für die zukünftige Entwicklung der Mess- und Prüftechnik“, ist der Experte überzeugt, „neue Wirkprinzipien haben in- aber auch außerhalb von Industrie 4.0 großes Potenzial, z.B. in der Quantentechnologie.“
 

Biologisierung der Industrie

Die nächste große Welle im Maschinenbau könnte laut VDMA-Trendscouts aus der Biologie kommen. KI und Machine Learning, von der Natur inspirierte Zukunftswerkstoffe oder Circular Economy sind nur einige Aspekte, die hier eine Rolle spielen. Sechs Fraunhofer Institute haben im Projekt BIOTRAIN eine neue Perspektive für nachhaltige industrielle Wertschöpfung untersucht und sehen die Biologie oder „Biointelligenz“ sowie biointelligentes Produzieren als nächsten Treiber der industriellen Wertschöpfung. Eine Studie zu diesem Thema läuft.
 

Echtes mechatronisches Engineering

Johannes Hörschläger, PreSales Consultant, und Engelbert Blumenthal, Product Manager, beeindruckten das Auditorium mit ihrer Live-Demo der Softwarelösung „Automation Designer“ der Siemens Digital Industries Software. Thema des Vortrags war „Der Digitale Zwilling im Umfeld der Mechatronik-Entwicklung“. Daten von einem System ins nächste zu übertragen ist hier die Herausforderung. Siemens hat eine neue komplett integrierte Applikation entwickelt, um die Automatisierungsplanung in einer Umgebung zu vervollständigen. Der „Automation Designer“ ermöglicht volles Mechatronik-Design für schnelleres Engineering und Qualitätssteigerung – durch Integration der Daten, die für Mechanik, Elektrik und Automatisierung gleichermaßen genutzt werden. Die Software eignet sich auch für die virtuelle Inbetriebnahme.

Die Unternehmen Beckhoff Automation, Eaton, kothes Smart Information Solutions und Trafag nutzten das Forum Maschinenbau abschließend zur virtuellen Präsentation ihrer Produkt- und Dienstleistungsinnovationen.


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